St. Gallen, 2. Oktober 2024
An die Entscheidungsträger:innen des Kantons St. Gallen
Sehr geehrter Herr Regierungsrat Christof Hartmann
Sehr geehrte Damen und Herren des Kantonsrats
Sehr geehrte Damen und Herren des kantonalen Migrationsamtes
Sehr geehrte Damen und Herren des kantonalen Sozialamts
Zum ersten Mal hält eine breitangelegte, wissenschaftliche Studie des Bundes[1] fest:
«Kinder und Jugendliche, die in der Nothilfe leben, sind grossen Risiken in Bezug auf ihr Wohl, ihre Gesundheit und Entwicklung ausgesetzt. Ihr Wohlergehen ist stark gefährdet.» Besonders besorgniserregend, schreiben die Studienautorinnen, ist der schlechte psychische Zustand. «Die soziale Isolation, die sie umgebende Perspektivlosigkeit und ihre Ohnmacht in der Folge von Entscheiden, an denen sie nicht partizipieren können – das alles macht sie verletzlich und schwächt sie dauerhaft». Die Kinder erleben eine Reihe «verstörender und kontinuierlich traumatisierender Ereignisse» in den Kollektivunterkünften.
Das Rechtsgutachten[2] zur Studie kommt zum Schluss, dass die gegenwärtige Situation der Kinder in der Nothilfe geltendes Recht verletzt. Sie verstösst gegen die UN-Kinderrechtskonvention sowie gegen verfassungsrechtliche Bestimmungen zum Schutze von Kindern und Jugendlichen.
Die unterzeichnenden Organisationen kennen die in der Studie beschriebene äusserst prekäre Situation der betroffenen Kinder im Kanton St. Gallen und begleiten sie und ihre Eltern, teilweise seit Jahren. Bei Besuchen in den Kollektivunterkünften, in unseren Projekten oder Therapiestunden sehen wir die Kinder, ihre Resilienz – und ihre Not.
Trotz viel Freiwilligeneinsatz und/oder therapeutischer Expertise können wir die Not der Kinder nur begrenzt lindern, denn das Leiden der Kinder wird durch ihre behördlich auferlegten Lebensbedingungen ständig aufrechterhalten. So hält auch die Studie fest: Es sind die Politik und die Behörden, die handeln müssen!
Wir, die unterzeichnenden Organisationen, möchten Sie bitten, die Handlungsempfehlungen der Studie[3] ernst zu nehmen und umzusetzen:
Langzeitbezüge (mehr als ein Jahr) von Nothilfe durch Kinder und Jugendliche vermeiden
Bei einem Langzeitbezug die Lebensbedingungen deutlich verbessern
Soziale Teilhabe sicherstellen
Familiengerechte Unterkünfte mit Rückzugs- und Lernmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zuweisen
Gezielte Förderung ermöglichen
Unterstimulation bei Kindern im Vorschulalter verhindern
Zugang zur Volksschule und zur Berufsbildung verbessern
Zugang zu medizinischen Behandlungen erleichtern
Psychologische Betreuungsangebote bereitstellen
Psychologische Unterstützungsprogramme entwickeln
Freizeitbeschäftigungen zugänglich machen
Klare Zuständigkeiten und Abläufe für den Umgang mit Gefährdungen definieren
Einheitliche und verbindliche Standards definieren und deren Einhaltung regelmässig überprüfen
Die unterzeichnenden Organisationen sind interessiert an einem Dialog mit Ihnen, um gemeinsam an der Umsetzung der Handlungsempfehlungen zu arbeiten. Das Kindswohl steht an erster Stelle. Dieser Grundsatz muss uns leiten.
Wir hoffen, dass Sie sich von der Studie berühren lassen und in Gedanken an die Kinder für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen einstehen. Herzlichen Dank!
Mit freundlichen Grüssen
Die unterzeichnenden Organisationen
Solidaritätsnetz Ostschweiz
Solihaus St. Gallen
Sans-Papiers Anlaufstelle St. Gallen
Kinderrechte Ostschweiz
Cabi Antirassismustreff
Netzwerk migrationscharta.ch
NCBI Schweiz
Flüchtlingsparlament Schweiz
Kontakt für alle unterzeichnenden Organisationen:Sükran Magro, Geschäftsleitung Solidaritätsnetz Ostschweiz, Tel. 071 220 17 45, Mail: leitung@solidaritaetsnetz.ch
[1] Lannen, Patrizia; Paz Castro, Raquel; Sieber, Vera (2024): Kinder in der Nothilfe im Asylbereich. Systematische Untersuchung der Situation in der Schweiz. Herausgegeben von der Eidgenössischen Migrationskommission EKM. Bern. Abrufbar unter https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/89806.pdf
[2] Amarelle, Cesla und Zimmermann, Nesa (2024): Das Nothilferegime und die Rechte des Kindes. Rechtsgutachten und Studie zur Vereinbarkeit mit der schweizerischen Bundesverfassung und der Kinderrechtskonvention. Herausgegeben von der Eidgenössischen Migrationskommission EKM. Bern. Abrufbar unter https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/89808.pdf
[3] Gemäss Handout der EKM an der EKM-Tagung zur Studie, 6.9.2024.
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